back to: WRITINGS

PETER ABLINGER - ANNÄHERUNG



 

ANNÄHERUNG, TEXTE 1992-94,

von Peter Ablinger
zuerst erschienen in: Positionen, 1995, Heft 23

 



ANNÄHERUNG


Ich stelle mir vor, in Eschers Bild "Unendliches Gitter" hineinzugehen, hineinzuschweben. Die Stäbe und Verbindungen aus denen das 3-dimensionale, unendliche Gitter besteht, werden bei meiner Annäherung immer weiter auseinanderweichen. Dabei könnte ich den Eindruck bekommen, daß diese, kubische Räume umschließenden Verstrebungen sich ständig ausdehnen, expandieren. Aber werde ich nicht andererseits feststellen können, daß der Ausschnitt, der mein Gesichtskreis ist, immer gleich angefüllt, gleich dicht bleibt? Die näheren Elemente geraten nach und nach außerhalb meines Gesichtskreises, während die nächste Generation den Platz der vorangegangenen, bzw. die gleiche Entfernung zu mir einnimmt etc. Und es geschieht nie, was bei der üblichen Vorstellung von Expansion zu zu erwarten wäre, daß der Raum (der Rahmen, mein Blickfeld) immer weiter würde, immer leerer, immer weniger angefüllt mit Elementen.





EIN WORT


Man fängt immer genau erst dann an, wenn man aufhört: Wenn man etwas beendet, aufgibt, sein lässt und: aufhorcht! Das ist der Moment des Beginnens. Alles davor war nur ein Drinstecken in den Bedingungen: zeitlos, bedingungslos, bewußt- und geschichtslos. Das heißt aber auch, daß jeder Anfang auf etwas gründet, das zwar da, aber eben doch nicht da war. Daß jeder Anfang zwar keine Vor-GESCHICHTE hat, aber etwas, worauf er gründet, woraus er entspringt: JEDER Anfang. Und das heißt dann auch, daß es den Anfang, den Mythos vom Anfang nicht gibt. Der Anfang ist bereits das Aufhören von etwas. Von etwas, das zwar nicht in Zeitbegriffen faßbar ist, aber das doch ein Ablösen von ihm, ein Aufhören, erlaubt. So ist der Anfang vielleicht vergleichbar mit dem Licht, das eine Sache plötzlich streift, oder mit dem Wort, das einer Sache erstmals gegeben wird ...





KEINE ERINNERUNG


Manchmal erfaßt man in einem Moment das Ganze gleichzeitig, schafft aber nur ein Detail, sobald man sich hinsetzt, es (das Ganze gleichzeitig) aufzuschreiben. Das Schreiben selbst ist Teil des Ganzen geworden, und bildet nun die dem Geschriebenen fehlende Hälfte. Es gibt keine Erinnerung. Es gibt Wiederholung, das ist ein körperlicher Vorgang, eine Praxis - kein Denkvorgang. Es gibt aber keine Erinnerung (zikr) sondern lediglich (oder: vielmehr) die Neukonstruktion von etwas,





KEIN BILD


Keine Bilder. Minimaler Ausdruck von Präsenz. Gegenwart. Reduktion auf pure Gegenwart. Auf Klang. In jedem Klang Möglichkeit. Mögliche Erscheinung. Erscheinung eines "aus dem Stück Rausgehens". Aus der Zeit. Entfernung von der Zeit. Vom Voranschreiten der Zeit. Vom Voranschreiten des Gedankens. Kein Gedanke. Nur die Gegenwart der möglichen Erscheinung. Der Schein. Der Schimmer. Das Licht. Ein Lichtstrahl der auf die Gegenwart trifft. Die Erfahrung daß das immer möglich ist. Die Erfahrung des "immer". Immer immer. Kein "dann". Nur immer.





REDUNDANZ


Alle Qualität fängt mit Redundanz an. Es gibt nicht das Große ohne das Zuviel. Gott ist das, was über die Information hinausgeht. Dagegen das Spezielle, das Besondere, das Einzigartige (Nicht-Redundante) ist das Gewöhnliche. Das, was die gewöhnliche, weil selbstverständliche Aufmerksamkeit fordert und in Anspruch hält. Das, worum sich das Wissen, der Intellekt, das Individuum abmüht. Das Besondere ist die Ablenkung. Es lohnt die Aufmerksamkeit nur, um sein Gleiches, seine Wiederholung aufzudecken, um seine Redundanz ausfindig zu machen, indem man es in einen Ablauf anderer Besonderheiten stellt, um daraus ein Muster zu gewinnen: Ein Ornament, einen Mäander, dessen einzige Besonderheit seine ewige Wiederholung und Erneuerung ist. Ein end-loses Band, das seine Einzigartigkeit darin hat, daß es einem frei- steht, an jedem Punkt des Bandes den Blick abzuwenden von ihm, oder umgekehrt, wieder hinzusehen, und eine weitere Zeit damit zu ver-bringen, dem Mäander mit den Augen zu folgen.





GRENZEN


Wir sprechen nicht, um verstanden zu werden, wir sprechen, um zu erfahren, wie weit Sprechen geht, wo die Grenzen des Gesprochenen, die Grenzen des Sprechenden und die Grenzen des Sprachklanges selbst sind. Wir singen nicht, um etwas mitzuteilen, zu transportieren, wir singen, um zu erfahren, wie weit singen geht, wie weit der Klang trägt, wohin er uns führt, oder ab wann er wieder zu uns zurückkehrt. Singen und Sprechen sind unser Echolot, sind da, Grenzen zu ermitteln, um den Raum um uns zu erfahren. Singen und Sprechen sind nur der Anstoß, die Bedingung für das Horchen: Wir horchen, lauschen auf die Antwort der Welt.





DAS ENDE VOM SCHAUEN


Als Tatsache ist es ja bekannt:
Daß nämlich Kunst nicht überall dazu da ist, ausgestellt, präsentiert und verkauft zu werden. Daß manche Musik mit ihrer klanglichen Erscheinung nicht gleichzusetzen ist. Daß Dinge getan werden, weil sie getan werden müssen!, und nicht damit sie jemand bemerkt.

Bekannt - als Tatsache - sind auch die Skulpturen hoch oben auf den gotischen Kirchtürmen, so hoch und so versteckt, daß kein Mensch sie jemals zu Gesicht bekommt, außer vielleicht der Dachdecker. Skulpturen, die aber nichtsdestotrotz in vollendeter Schönheit und Detailiertheit ausgeführt sind. Weitere Beispiele wären zu nennen, um dieses Wirken im Stillen, im Unsichtbaren zu erfassen, dessen Notwendigkeit von den manchmal völlig in den Hintergrund tretenden Schöpfern dennoch nie angezweifelt wurde, wie irrational auch immer diese Notwendigkeit erscheinen mag: Eben dieses Irrationale IST Notwendigkeitl Das was wir NICHT wissen, mag unsere stärkste Begründung sein.

Ein besonders raffiniertes Beispiel kam mir kürzlich zu Ohren. Ein Architekt in Weimar, der mit der Wiederherstellung historischer Architektur zu tun hat, wußte zu berichten von einer solchen Skulptur, die eben auf Grund der schwindelnden Höhe, in der sie in der Kirche angebracht ist, von unten praktisch unsichtbar bleibt, wobei es sich hier um den Innenraum des Gebäudes handelt. Beim - nur dem Baumeister möglichen - Anblick aus der Nähe, stellt sich heraus, daß die Skulptur den Baumeister der Kirche selbst darstellt, der zum anderen ein Modell eben dieser Kirche in Händen hält. Und zwar in der Weise, daß die der Figur zugewandte Seite des Modells offen ist, sodaß allein die Skulptur den Modell-Innenraum "sehen" kann.

Nicht nur, daß uns also die Figur als solche durch die übergroße Entfernung unerkennbar bleibt, - selbst der (restaurierende) Architekt sieht nicht, was der Architekt (als Skulptur) sieht. Das Geheimnis ist doppelt verschlossen.

Das Geheimnis ist aber auch doppelt vermittelt: Jedes Schloß (zu einem Schloß gehört ja auch ein Schlüssel) ist nicht nur Trennung, sondern auch Bindeglied zwischen Welten.

Wenn wir uns in die richtige Konstellation des Schauens (Hörens) einordnen, nehmen wir Teil am Ende Vom Schauen (Hören): Wir schauen den Architekten an, der den Architekten anschaut, der den Innenraum seines Werkes anschaut: Eine Folge von Blicken, deren Ende die Offenbarung ist.





VERSTEHEN VERHINDERN


"Man möchte sich Sprachformen wünschen, die ein hinreichendes Maß an Vorbehalten mitvermitteln und ein zu rasches Verstehen verhindern" (Luhmann)

"Das ist kein vollkommenes Gebet, solange der Mensch sich selbst, oder das was er betet, versteht." (H1. Antonius)





BARRIEREN


Hör-Barrieren (Barrieren für den Hörer); Spiel-Barrieren (Barrieren für den Spieler); Erstere: Zuviel oder zuwenig Redundanz, oder beides: etwa zuviel in der Makrostruktur, zu wenig im Detail, oder umgekehrt; Letztere: Technische (physiologische) Schwierigkeiten oder sogar Unmöglichkeiten. Eine Art nicht-hierarchischer, aber auch nicht-demokratischer Selektion: Unbefugte fernhalten! Voraussetzungslose Selektion. Oder sogar: Voraussetzungen abweisend. (:Alle Im-Voraus-Setzungen werden herausgefiltert!)





DAS GEFÄNGNIS DES BOETHIUS


Ich möchte nur soviel Freiheit, um den Zwang zu spüren. Jederzeit. In jedem Moment. Das heißt, in jedem Stadium der Arbeit etwa. Nicht nur bei der Konzeption, auch bei der Ausführung, der eigentlichen Niederschrift. Nicht nur die Konzeption darf von dem Gefühl der absoluten Notwendigkeit getragen sein. Auch die Ausführung: Ich muß genau diejenige Strategie finden, die in die Ausführung die notwendige Entscheidungsmöglichkeit legt, um im Entscheidungsfall selbst, das Zwingende einer bestimmten Wahl zu spüren. Das heißt: Nur wenn ich zwischen 2 Möglichkeiten wählen muß, kann ich spüren, daß es keine Entscheidung gibt, daß tatsächlich nur eine der beiden Möglichkeiten möglich ist.

Die Entscheidung ist der Moment unserer Teilnahme am Entschiedenen. Außerhalb der Zeit ist alles entschieden. In der Zeit rekonstruieren wir diese Entschiedenheit. Wenn wir entscheiden, zelebrieren wir den Moment des Entscheidens selbst. Es gibt nur einen. Es gibt nur einen Moment der Entscheidung. Der ist immer. Aber auch immer schon dagewesen.

Wir können durch eine Entscheidung nichts entscheiden. Wir können aber teilnehmen am Entschiedenen. Und das Größte, was uns die (zeitliche) Entscheidung erfahren lassen kann, ist die Erfahrung des (außerzeitlichen) Entschiedenen.

(Die Entscheidungsart richtet sich nach der Wesensart des Entscheidenden, nicht des zu Entscheidenden.)

(Entscheidung und Freiheit sind die Konstituierenden der Zeit - nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist das Entschiedene. Das Entschiedene ist außerhalb der Zeit. Die Zeit ist die auseinandergelegte Wahrheit. Die Zeit ist der Baukastensatz des Entschiedenen. Ein Baukastensatz ist etwas, das schon immer ein Zusammengestelltes war, uns aber zum Zusammenstellen überlassen wurde.)





WERK


"Ich habe" ist nicht ganz richtig. "Ich befinde mich in" ist, glaube ich, besser. Wonach ich taste, ist: eine Vorstellung von "Werk" als etwas Nicht-Abgeschlossenes - oder genauer: als Von-Vornherein--Abgeschlossenes. Das heißt, etwas, das nicht abgeschlossen werden KANN (braucht), weil es schon abgeschlossen IST. Es ist da, und muß doch erst werden. Es ist vielleicht wie ein riesiges Geschenkpaket, das etwas aufwendig verpackt wurde. Ich bin ständig damit beschäftigt, es aufzuschnüren. Es gibt keine WerkE, es gibt nur das Werk. Das ist das Aufschnüren und das Aufgeschnürte zusammen.

Wenn ich ein Stück schreibe, ist das sozusagen der aktuelle Bericht von den Aufschnür-Arbeiten. Ich beschreibe, von welcher Seite ich das Paket gerade vor Augen habe. Es ist also eigentlich kein "Stück", es ist immer das Ganze, immer das Werk. (Man sieht jetzt auch, was es mit "Ent-Wicklung" auf sich hat. Es meint etwas, das ohnehin schon da ist!)





LERNEN


So gern ich mich manchmal mehr wiederholen möchte, eine bestimmte Technik, die im vorangegangenen Stück gut funktioniert hat, noch einmal anwenden würde - es geht nicht. Ich bekomme Zustände. Körperliche. Also muß ich alles immer wieder auf den Kopf stellen, kräftig schütteln, Dinge rausschmeißen, andere reinnehmen, etc. - bis es auf einmal "wieder geht". Bei den einfachsten Sachen: Ich komme nie darum herum, mich vor dem Werk zu demütigen, wie ein Anfänger dreinzuschauen und wieder ganz von vorne anfangen zu müssen. Das Schreiben ist dann gleichzeitig das Erlernen der neuen Situation. Man kann durchwegs sehen, daß die Beherrschung des Materials im Verlauf eines Stückes zunimmt. Das geht aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Absolute Beherrschung wäre der Tod. Der "Schwierigkeitsgrad" muß so berechnet sein, daß es genau ein Stück lang dauert, bis ich das Stück "kann". Mit dem Gekonnten allerdings ist nichts mehr weiter anzufangen.





DABLEIBEN


Wenn beim Schlußapplaus außer Interpret und Komponist zum Beispiel noch der beteiligte Tontechniker auf die Bühne geholt wird, sieht man ihn immer ein wenig achselzuckend den Applaus entgegen nehmen, so, als sei er nicht wirklich verantwortlich. Mir geht's genauso, wenn mir jemand zu einem Stück gratuliert. Nicht, daß ich mich nicht freue, aber ich hab dann das Gefühl, nicht wirklich zuständig zu sein und möchte den Gratulanten am Liebsten weiterverweisen. Das hat weder mit Eitelkeit noch mit Bescheidenheit zu tun. Es gibt da ein Mißverständnis. Es gibt einen Begriff von Authentizität, der NICHT in der Identifikation einer Urheberschaft zu suchen ist. Ich denke an die Ikonen-Maler. Es gibt das Abbild und das Urbild. Das Abbild darf den Namen des Urbildes tragen. Die Wiederholung stiftet die kontinuierliche Verknüpfung von Abbild und Urbild. Und die Verknüpfung bedeutet jene Authentizität in der weder Urheberschaft noch Individualität, und schon gar nicht Originalität einen Platz finden können. Das heißt nicht, daß das Individuum nicht gefordert würde. Aber nicht seine Individualität ist gefordert, sondern eher etwas wie: "Zärtlichkeit" (Roman Haubenstock-Ramati), "Beständigkeit" (George Steiner).





NICHT DER WEG: DER ORT


Anwesendsein. Keine Fort-, Weiter-Bewegung, -Entwicklung, sondern Da-Bleiben, Da-Sein. An einem Punkt. Am Punkt. Dem Entscheidenden. (Unsere Metaphern vom "Weg" und vom "Voranschreiten" suggerieren immer das einsame Individuum. Den Vorläufer. Den Anführer.) ((Nomadisieren ist etwas anderes: Wenn ich gehen muß, gehe ich. Trotzdem bin ich immer nur da wo ich bin. Ich bin immer nur da. Und nicht schon woanders, voraus.))





DAS GRUNDLOSE


Musik beginnt und hört auf. Das ist sinnlos. Und darin ist es nicht-profan. Es ist ein Dienst am Unerklärlichen. Auch wenn wir sie mit Sinn vollzupfropfen versuchen: das Grundsätzliche daran, das Anfangen und das Aufhören, bleibt sinnlos, bleibt rein.






(Texte 1992-94, zuerst erschienen in: Positionen, 1995, Heft 23)




back to: WRITINGS

impressum \ this page was created by Aljoscha Hofmann \  last edited 24.01.2006 CET