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Aus der E-Mail-Korrespondenz
zwischen Edgar Honetschläger und Peter Ablinger


Frühe Überlegungen zum 7. Akt DAS PUBLIKUM




lieber edgar

vielen dank für deine ausführlichen überlegungen und bedenken
ich wollte dir auch schon schreiben hinsichtlich der mitbestimmung beim ton zum film
ich stelle mir inzwischen eher eine andere als die zuletzt besprochene zusammenarbeit vor
erstens weil ich dich ja nicht gängeln will beim dreh und zweitens weil sich vielleicht ein sinnvollerer modus des ineinanderwirkens finden läßt
das den-modus-finden (die produktionsbedingungen) sind ja selbst wesentlicher bestandteil dieser produktion, vielleicht sogar der wichtigste (daß ich keinen übergeordneten regisseur für das gesamt-projekt zulassen wollte, kostete mich schon einige kämpfe gegen p.o., es bedeutet aber, daß wir alternativen des zusammenarbeitens der einzelnen beteiligten künste schaffen müssen. dazu ist erst mal die netzstruktur das modell. jeder beteiligte künstler muß sich fragen, was sein eigener beitrag mit jedem einzelnen der anderen beiträge verbindet.)

also:
was hat "das publikum" mit "der gesang" zu tun:
zb. in beiden fällen bilder von dir, und die figur der yukika
was hat "das publikum" mit "das orchester" zu tun:
wissen wir noch nicht
was hat "das publikum" mit "die kulisse" zu tun:
evt. die weisse fläche
was hat "das publikum" mit "das libretto" zu tun:
bisher nur ein paar andeutungen, daß sätze aus dem libretto im film wieder vorkommen könnten
was hat "das publikum" mit "die handlung" zu tun:
keine ahnung, bisher
was hat "das publikum" mit "die bestuhlung" zu tun:
über stühle (die dokumenta arbeit) hab ich dich kennengelernt
etc
etc

aber zurück zur frage der zusammenarbeit von bild und ton im schlußteil, gewissermaßen die frage:
was hat "das publikum" mit "das publikum" zu tun

zuletzt in graz haben wir über asynchronizität gesprochen über die möglichkeit, bild und und ton unterschiedlich zueinander zu stellen
mehr oder weniger synchron
der blick nach draußen und der ton von herinnen
oder
die bewegung der lippen und die dazugehörigen sätze zu verschiedenen zeitpunkten
oder
(ich fantasiere nur so vor mich hin, das sind keine vorgaben)
bild ohne ton setzt ein: strassenkreuzung
10 sek
dann kommt ton dazu: strassenlärm
10 sek
dann bild weg (schwarz) und strassenlärm allein
10 sek
dann ton weg (stille)

eine verschiebung, versetzung
nur 10 von 30 sek waren synch
bild und ton

dasselbe modell mit einer gefilmten weißen fläche
(häuserwand, bettlaken, novemberhimmel...) dann einsatz
weisses rauschen dazu (von einem fernseher ohne antenne...)
etc

oder
man hört eine stimme sprechen
sieht aber die schuhe einer/der person
(so etwas ähnliches hattest du in berlin skizziert)

man kann/muß darüber nachdenken, daß film und ton prinzipiell unabhängig entstehen,
daß die verwendung des gefilmten tons nur eine möglichkeit unter anderen ist
(das sagtest du ja selbst)

in dem moment wo ein kammerorchester diesen ton sich einverleibt - könnte man sagen - ist das verhältnis von bild zu ton ohnehin ein ganz anderes, eine andere kunstgattung, - nicht musiktheater nicht film ...

(nebenbei gesagt, dürfte dieser teil der einzige sein mit einer realen chance auf wiederaufführung)

konkret:
mit deinem tonmann hab ich sicher kein problem vielleicht halt ich mich überhaupt ganz raus aus den dreharbeiten
vielleicht ist es wichtiger, wenn wir davor und danach zusammensitzen
davor, wenn wir möglichkeiten des zusammentreffens von bild und ton diskutieren (ohne daß wir uns an unsere diskussionsthemen unbedingt halten müßten), und danach, beim schnitt, oder noch später, beim abmischen und endgültigen festlegen des timings des ganzen dings
(vielleicht sollte es ja stellen geben, in denen das bild schlicht pausiert, und logischerweise solche, in denen der ton pausiert (wo man den knurrenden magen seines sitznachbarn hört))

das wegnehmen von etwas
- nicht das hinzufügen
ist ja immer noch ein zentraler gedanke bei dem ganzen

...und genaugenommen haben wir ja 3 "stimmen":
das bild
die tonspur
und das live-orchester
das möchte ich erst mal wie einen dreistimmigen kanon denken, bevor wir es wieder zussammenfügen - möglicherweise zu einer synchronizität, wie sie - jedenfalls für die musik - eher unüblich ist.

graz ist nicht palermo
das stimmt
aber mir ist es auch irgendwie egal, daß es nicht palermo, nicht london oder berlin ist
in gewisser weise passt es mir sogar ins programm, daß ich NICHT von etwas speziellem oder besonderen ausgehen muß eine atraktive stadt mit besonderen menschen darin wäre vielleicht anregender zu bearbeiten, und das ergebnis kulinarischer
aber irgendwie ist das gar nicht mein thema
ich interessiere mich in erster linie für das was ist
(einfach gesagt)
und nicht für die aufregenden und ungewöhnlichen und einzigartigen dinge
sondern für das was überall ist
: das bin ich vermutlich selber
einzigartige dinge können einen von sich selber recht gut fernhalten
langeweile dagegen ist fast sowas wie die voraussetzung für: das was ist
meine tonaufnahmen von grazer strassen und plätzen, brücken und kneipen, kaufhäusern und strassenbahnen zum beispiel:
es könnte im grunde überall sein
ich könnte auch ein paar aufnahmen von berlin darunter mischen
oder die gleiche aufnahme einmal "jakoministrasse", dann "leonhardtstrasse" dann "leitnergasse" nennen
aber mich beschäftigt genau diese redundanz
oft, wenn mitten in einer schön langweiligen aufnahme plötzlich etwas passiert, was interesse erweckt, schalte ich ab, oder schneide es später heraus
das interessante bringt mich nicht weiter
es sind eher minimale differenzen
oder sogar das fehlen von differenzen
daß so eine stadt überall gleich klingt ist ja auch eine aussage
(wenns denn so ist überhaupt)

restriktion und lust
vorgaben sind arbeitshypothesen
auch für mich selber
sie sind da um herauszufinden was los ist
was geht und was nicht
(in praktischer wie in künstlerischer hinsicht)
ich mache einen vorschlag um zu sehen ob ich ihn selbst überhaupt gut finde
und natürlich, um zu sehen wie du/die anderen darauf reagieren
das ist nichts als eine arbeitsmethode
ich wüßte nicht wie ich es anders anpacken sollte
außerdem
die andere restriktion, die idee der interviews, das kam ja wieder eher bereits durch die gespräche mir dir zustande. die vorstellung, kompositorisch mit sprache zu arbeiten hat sich allerdings inzwischen schon recht festgefressen bei mir, insbesondere die vorstellung, daß diese banalen alltagsphrasen, anfangen zu singen durch die musikalische umsetzung, das ergibt ein schönes finale, obwohl das setup ja eher wie eine experimentalanordnung ist: musik analysiert/seziert steirisch

... beim "lustprinzip" bin ich 100% d'accord
ich hasse es, mit leuten zu arbeiten, die das was sie tun, nicht mögen
es ist genau genommen die schlimmste aller sünden
ich habe schon proben abgebrochen, weil ich es nicht einsah, meine zeit mit leuten zu verbringen, die hassen, was sie da tun
andererseits ist die lust, die liebe zu den dingen mit denen ich mich beschäftige der wichtigste, der feinskalierteste aller seismographen bei der künstlerischen entscheidung

du mußt dich also klarerweise fragen, ob du lust hast, das alles mit mir zu machen
das ist voraussetzung

ich selbst habe zu gestaltung-versus-zufall kein vor-urteil zuviel gestaltung ist sicher nicht, was wir haben wollen - wenn alles stilisiert "gestylt" wäre; so einer "künstlichen künstlichkeit" gehört meine persönliche vorliebe nicht. aber andere dinge drängen sich einfach auf, wie die schon oft erwähnte korrespondenz von projektionsfläche und kulisse.

dein exterritoriales graz ist ein interessanter gedanke
allerdings stellt sich mir gleich die frage, ob sich diese exterritorialität nicht in graz selbst finden läßt der untypischste ort von graz...
wirklich weggehen, würde mir wie weglaufen vorkommen
obwohl ich bestens verstehe, was du suchst, glaub ich.
aber...
eher afrika/brasilien in graz, als graz in afrika/brasilien
und...
an so leute wie bürgermeister, (kaltenegger?), harnoncourts, steirischer adel hab ich selbst nie gedacht, bevor du damit angefangen hast. ohne dass das ein ausgereifter gedanke gewesen wäre, dachte ich eher an die grazer, die man täglich im supermarkt und in der strassenbahn trifft, also wieder die nicht-besonderen, die die man überall trifft, vielleicht noch ghanesen und bosnier. aber wie gesagt, das war nicht wirklich ein klarer gedanke.

ein falsches graz hat natürlich schon was für sich
zumindest für sich genommen
denn man müßte sich fragen, was dieser gedanke für die anderen akte bedeuten würde
er kann ja nicht einfach so an die 6 anderen akte angehängt auftreten, oder?
da muß ich noch ein paar mal drüber schlafen

und dir dafür nochmal den umgekehrten gedanken ins bett legen:
läßt sich aus der undekorierten, schonungslosen banalität, aus dem was ist, nicht ebenso eine scharfe klinge führen?
noch mal:
die banalität der ich begegne bin ich selber
vielleicht so:
vergiss die grazer
die stadt als solche
mache ein selbstportrait von dir
(mit hilfe von leuten die du an diesem unort zufällig triffst)
sowieso ist alles was wir ehrlich machen ein selbstportrait
und wenn wir es unehrlich machen, ist es das selbstportrait unserer unehrlichkeit, oder?
denk an die umgekehrte perspektive
der blick - dein blick - ist das thema, und nicht das, worauf der blick fällt

so
genug für diesmal
bin gespannt auf weitere überlegungen von dir
ich bin auch - verzeih - geradezu glücklich über deinen gereizten zugang zum thema
er verspricht, daß es nicht zu gemütlich wird
ich finde schon die bisherige auseinandersetzung mit dir sehr spannend und freu mich auf die fortsetzung

viele liebe grüße an yukika
peter






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