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Peter Ablinger:
Theorie der Mehrstimmigkeit

english translation below

(Paderborn, Gründonnerstag 2005, nach einem Besuch der Bartholomäus Kapelle von 1017)



Vor dem Jahr 1000 baute das frühe Mittelalter meist nur die Krypta als gewölbten Raum, das Langhaus blieb flach gedeckt. Bei relativ kleinen gewölbten Räumen wie den Krypten stehen die Raummaße in einer unmittelbaren Grundton-Beziehung zur Wellenlänge. Eine Schwingung an der unteren Gehörgrenze hat eine Wellenlänge von ca. 20m. Bei grösseren Räumen sind auf Grund der Raummaße nur mehr die Oberwellen hörbar, die unmittelbare Beziehung wird diffus. Viele romanische und frühromanische Krypten dagegen unterstützen nur einen oder ein paar wenige Haupttöne, die zudem sehr exakt intoniert werden müssen. Wenn schon ein ganzer Kreuzgang auf einen einzigen bestimmten Choral hin gebaut und skulptiert werden kann (siehe: Marius Müller, 'Singende Steine'), liegt die Frage nicht fern, ob auch die Krypten bewusst auf einen ganz bestimmten Ton hin gebaut wurden. Diese Orte dienten dem Gebet, und beten hieß singen. Insofern stellt es sich schon fast nicht mehr nur als Frage, dass diese Räume - vielleicht sogar in ihrer wichtigsten Funktion - als Klangräume und Resonanzorte dienten und als solche auch geplant und konstruiert wurden.

Über die Geometrie, die wie die Musik zum Quadrivium gehört, waren Musik und Architektur ja ohnehin quasi in derselben Disziplin vereint.

Das akustische Erlebnis der ersten gewölbten Bauten des frühen Mittelalters muss für den damaligen Menschen überwältigend gewesen sein. Denn was passiert, wenn nun an so einem Ort der (einstimmige) Choral gesungen wird: Wenn die dominante Raumresonanz gleichzeitig der Grundton des Chorals ist, bleibt der Grundton als Bordun ständig präsent, der reale Gesang wird also zur "Seitenbewegung", zur Tropierung der Raumresonanz. Es entsteht mehrstimmige Polyphonie - selbst dann, wenn ich den Choral ganz alleine singe!

Bei komplexeren Raumproportionen werden mehr als nur ein einziger Ton unterstützt. Beim einstimmigen Singen bleiben im Nachhall mehrere/viele/alle Töne gleichermassen erhalten. Das muss als unvergleichlich neu erlebt worden sein, ein Mysterium: man singt eine einzelne Melodie und erhält eine Art vielstimmigen Satz!

In grossen gewölbten Räumen schliesslich wird die Raumantwort diffus: Einerseits werden keine bestimmten Töne mehr bevorzugt, eine grosse Kathedrale funktioniert "in F" ebenso wie "in E", sie ist gewissermaßen universell. Andererseits tritt die Raumantwort dem Sänger nun als Nachhall, als Anderes, gegenüber: der Nachhall kommt nicht mehr aus der Mitte des Raumes, sondern eher aus den entfernteren Zonen des Gebäudes, und wird zudem am intensivsten als zeitlich verzögerter, und in den Pausen des Gesanges erfahren. Die akustische Totalität hat sich zwar weiter ausgeweitet, aber die Erfahrung des Vielen aus dem Einen hat auch an Unmittelbarkeit verloren.

Und genau an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die synchron zu den grossen Kathedralbauten entstehende polyphone Mehrstimigkeit (etwa Perotins) nicht in gewisser Weise die Rekonstruktion eines Ursprungserlebnisses war, das wie eine Erscheinung empfunden werden musste, als Präsenz, welche so nur in den kleineren und früheren Formen gewölbter Architekturen, den Krypten, Apsiden und Seitenkapellen zu haben war - und in vielen von ihnen nach wie vor überprüfbar und nachvollziehbar ist! Die Vergegenwärtigung des Zeitlichen, die Omnipräsenz eines eigentlich Vergänglichen, müsste auch den damaligen Theologen/Komponisten/Sängern als die zentrale Konzeption polyphoner Mehrstimigkeit erschienen sein.




Vergleiche / Compare:

Hypothesen über einen romanischen Karner / Hypotheses On A Romanesque Chappel

Ein veränderter Begriff von Harmonie / Harmony and Electricity

Die ungarische Brücke

The 'Verticalisation of Time' in: IEAOV / Instrumente und ElektroAkustisch Ortsbezogene Verdichtung



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