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Peter Ablinger:
WEISS / WEISSLICH 35
SCHILDERUNGEN (1998)
hinweisende Beschilderungen akustischer Situationen





Man bleibt stehen,
liest,
denkt "Aha",
und geht weiter;

oder man denkt "Ja wirklich?",
versucht kurz das Geschriebene zu verifizieren,
und geht weiter;

oder man denkt "So ein Blödsinn",
und geht weiter.

In allen diesen Fällen ergibt sich eine kleine Unterbrechung
(unserer Gedanken, unseres Wegs ...)
- Der Unterbrechung ist das Stück gewidmet.

(4/02)

    The piece consists of signs in public space on which one reads short descriptions of the actual acoustic situation, the location where the sign is set up. Similar to signs that refer to a botanical particularity of a nearby tree, the signs of this piece describe simple objective facts of the acoustic vicinity. On its surface the signs therefore aim toward our sensibilty and awareness of the acoustic reality. But actually the piece seeks to understand the difference between a sound and the conscious perception of that same sound - the difference between a thing and a thing with a name.

    In any case, whether we try to verify what we read or just shake our head about the presumption, the piece compels a short interruption of our path.

    The piece is dedicated to the interruption.


    (english edited by Bill Dietz)



WEISS / WEISSLICH 35, Schilderungen (1998)
Version für den Resslpark/Karlsplatz Wien: 14 Schilder (2002)
    WHITE / WHITISH 35, designations (1998)
    version for the Resslpark/Karlsplatz Vienna: 14 signs (2002)



Texte auf den beiden abgebildeten Schildern;
links: "Beim Eintritt in die U-Bahn-Unterführung verändert sich die Präsenz von Schritten und Stimmen; die tiefe Grundierung des Autoverkehrs ist hier einem helleren Hintergrund aus Rolltreppen und Ventilatoren gewichen."
rechts: "Die Rollen der Skateboardfahrer klingen auf Stein heller als auf Asphalt oder Teer."

Gestaltung: Ursula Musil
Fotographie: Maria Tržan

English notes edited by Andrew Smith





Die Stimme der Fee

Die Leute lesen etwas.
Und dann glauben sie es.

Erst als Geschriebenes tritt es in ihr Leben ein. Erst ab dann hat es eine Bedeutung. ZB. der Tourist, der den Gouverneurs Walk sucht - ohne zu bemerken, daß er sich bereits darauf befindet, ohne zu bemerken, daß es der atemberaubendste Ausblick auf das chinesische Meer ist, den man sich vorstellen kann ...

Nein, er bemerkt es nicht, denn er muß den Gouverneurs Walk suchen, der als der atemberaubendste Ausblick auf das chinesische Meer in seinem Reiseführer beschrieben ist.

(Hongkong, 11/00)










Die Texte aller 14 Schilder: Karlsplatz, Wien 2002



1.
Die Rollen der Skateboardfahrer klingen auf Stein heller als auf Asphalt oder Teer.
zwischen Karlskirche und Wasserbecken



2.
Die Klangfarbe der Linden entsteht, indem der Wind in den Blättern gebrochen wird; der dunklere Klang des Efeus rührt dagegen daher, daß seine Blätter aneinanderstreifen.
wenn man von der Karlkirche nach rechts geht, da wo man zur Symphonikerstrasse einbiegen müßte, stehen junge Linden von Efeu umklammert



3.
Die weichen Nadeln der Eiben bieten dem Wind keinen Widerstand, keine Reibung, und somit keinen Klang. Nur bei Sturm kann man einen Formant zwischen "o" und "a" vernehmen.
weiter in Richtung Musikverein, kurz vor dem historischen Museum, stehen Eiben abgeschirmt von einer dichten Hecke



4.
Eine ausgeglichenes Klangbild erlaubt es, hörend, in vielen Abstufungen, von Geräuschen im Vordergrund zu mehr und mehr entfernten Klängen vorzudringen.
etwa vor dem großen Becken (also gegenüber der Kirche), auf dem wohl offensten Stück des Parks



5.
Die Stimmhöhe quietschender Kinder übertrifft noch jeden Kolloratursopran ("Königin der Nacht") bei weitem.
am Spielplatz, nahe seinem Eingang, Seite der TU



6.
Die Rufe und Schreie der Kinder, die auf Kies rutschenden Turnschuhsohlen, und das Aufprallen des Fußballs bilden ein vielstimmiges Ornament.
nahe Spielplatz, mehr Richtung U-bahn, nahe Ressel-Skulptur



7.
Die ungeölte Schaukel und die Spatzen befinden sich in der gleichen Tonlage
nahe Spielplatz, auf der Seite der Karlskirche



8.
Gummisohlen (leichtes Knirschen oder Quietschen);
Harte Absätze und Ledersohlen (dunkles Aufsetzen);
Sandalen (zartes Klingeln der Schnallen);
Sandaletten (leises Aufklatschen auf der Sohle).
zwischen großem Becken und mittlerem U-Bahn-Eingang



9.
Die dunklen Klänge des Straßenverkehrs verhüllen die Tiefen und Mitten anderer Klänge; helle Geräusche setzen sich dafür deutlicher ab: Fahrräder, Papierrascheln, ungeölte Kinderwägen, Vogelstimmen.
nahe Schubert-Linde, an der Treppe zum Otto Wagner Kaffee



10.
Aus der Nähe erinnert das Plätschern des Brunnens an Sprache; bei der Entfernung von ihm verflüchtigen sich zuerst seine tieferen Frequenzen.
kleiner Brunnen in dem Parkabschnitt vor der evangelichen Schule, nahe U-Bahn



11.
Taubengurren hat einen ausgeprägten U-Formant;
der Flügelschlag ist ein rhythmisches rosa Rauschen.
vom Brunnen ein Stück Richtung evangelische Schule, hinter dem Schanigarten



12.
Von den Gesprächen verschwinden bei zunehmender Entfernung zuerst die Konsonanten; die Vokale bleiben länger hörbar.
von 11. nicht weit Richtung TU, zwischen Madersperger-Skulptur, TU und evangelischer Schule



13.
Eine Art "Rondo":
Autoverkehr - Straßenbahn (solo) - Fußgänger und Radfahrer -
Autoverkehr - Lokalbahn (solo) - Fußgänger und Radfahrer -
da capo
nahe an der Ampel zur Wiedner Hauptstrasse, Ecke evangelische Schule



14.
Beim Eintritt in die U-Bahn-Unterführung verändert sich die Präsenz von Schritten und Stimmen; die tiefe Grundierung des Autoverkehrs ist hier einem helleren Hintergrund aus Rolltreppen und Ventilatoren gewichen.
am (westlichen) U-Bahn-Unterführungs-Eingang






PLACE DE PARIS, Luxembourg 2009

Autoreifen auf regennasser Strasse klingen wie stimmloses ‹s› oder ‹sch›.

Les pneus sur route pluvieuse sonnent comme un ‹s› ou un ‹sh› non voisé.

Schneuzen und das Zischen der Hydrauliktüren der Busse können durchaus ähnlich klingen.

Se moucher peut sonner de manière similaire au sifflement des portes hydrauliques du bus.

Um die Mittagszeit an Werktagen ziehen ganze Horden von Lyzeums-Schülerinnen an der Place de Paris vorbei und erfüllen ihn für ein paar Minuten mit vielstimmigem Gelächter und einem Kreischen, das gelegentlich Stimmlagen erklettert, welche mühelos das hohe C eines Soprans überbieten.

Vers midi, les jours ouvrés, des hordes de lycéennes passent sur la Place de Paris qu’elles emplissent pour quelques minutes de rires polyphoniques et de hurlements atteignant parfois des tessitures qui dépassent aisément le contre-ut d’une soprano.

Der Unterschied zwischen regennasser und trockener Straße verändert den Klang der Place de Paris wie der Wechsel gegensätzlicher Beleuchtungen: Bei nasser Straße klingt der Platz wie in grelles diffuses Gegenlicht getaucht, und das helle Geräusch der Autoreifen auf dem nassen Asphalt scheint alle Einzelheiten aufzusaugen und zu vereinheitlichen. Die trockene Straße dagegen lässt die Konturen der einzelnen Klänge deutlich voneinander getrennt und insbesondere die dunklen Klanganteile markant hervortretend erscheinen – vielleicht wie extremes Neonlicht, das eine nächtliche Strassenszenerie beleuchtet.

La différence entre route pluvieuse et route sèche modifie le son de la Place de Paris, à la manière d’un changement d’illuminations contrastées: dans le cas d’une route mouillée, la place sonne comme baignée dans un contre-jour cru et diffus, et le bruit clair des pneus sur l’asphalte humide semble absorber et unifier tous détails. Au contraire, la route sèche laisse apparaître distinctement les contours de chaque son, et contribue à faire surgir de manière marquante les parties sombres du son – peut-être comme la lumière extrême d’un néon éclairant une scène de rue nocturne.


Die 14 Schilder in der Version "Place de Paris", Luxembourg 2009, deutsch und französisch (PDF, 500KB)


siehe auch:

> Mehr Wirklichkeit - Hören in 4 Sätzen

> Hinweisstücke / Reference Pieces

> Prosa-, Foto-, Objektstücke / Prosepieces, Photos, Objects: ("Musik ohne Klänge") / ("Music without Sounds")




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impressum \ this page was created by Aljoscha Hofmann \  last edited 01.12.2009