Peter Ablinger:
Umgekehrte Perspektive
Byzanthinische Malerei
Barocke Architektur
James Turrell
- meine "Schutzheiligen" bei der Entwicklung einer anti-perspektivischen Konzeption der Musik
eine Materialsammlung 1990-2020
Umgekehrt perspektivischer Tisch
Detail aus dem Triptychon "St. Nicolas der Wunderwirkende", 16.Jh, Andrei-Rubljow-Museum, Moskau, CC BY-SA 2.0 de
...
Inwiefern ließe sich von einer „umgekehrten Perspektive“ sprechen in Bezug auf das
Hören.
Die umgekehrte Perspektive organisiert den Raum nicht vom Blickwinkel des Betrachters aus, sondern vom Blickwinkel des Dargestellten.
Die Gestalt im Zentrum:
Nicht der Komponist oder der „ideale Hörer“ bildet den Fixpunkt alles Wahrnehmbaren, sondern eben „ein“ Hörer, jeder Hörer, auch der unaufmerksame. Nicht das
Wahrnehmbare ist das den Formverlauf Konstituierende, sondern das Wahrgenommene schafft den Hörraum. Und Mittelpunkt dieses Hörraums ist jeder Hörer an seinem jeweiligen physikalischen Ort im Saal und an seinem jeweiligen geistigen Ort in
Gedanken.
„Nur von der Gestalt aus gesehen ,stimmen‘ die Linien annähernd“ (Hans Holländer).
Nur vom Dargestellten aus gesehen lässt sich der umliegende Raum verstehen. Alles ist
auf ihn bezogen. Er ist kein beobachtbares Objekt mehr sondern der einzige Vermittler
der Gesamtheit des Orts. Ich glaube, man kann sagen, dass in einer umgekehrt perspektivischen Musik der oder das Dargestellte zur Identifikation mit dem einzelnen Hörer führt: gerade weil von einem Dargestellten gar nicht mehr gesprochen werden kann.
Das Dargestellte fehlt im Klang. Bzw. der Platz ist freigelassen wie in einem Spiegel.
Der Klang, die Musik wird zum Portrait des einzelnen Wahrnehmenden.
„Von der Gestalt aus stimmen die Linien annähernd.“
Eine Annäherung also. Ein Prozess, ein Vorgang.
Annäherung.
Die Annäherung als Prozess der nur stattfinden kann wenn die Musik, der Klang
selbst quasi unbewegt ist: Der Klang ist das was uns hört, uns eingehend beobachtet.
Denn nur wenn der Klang selbst unbewegt und absolut „aufmerksam“ ist, kann er uns
Unaufmerksame, uns Bewegte erfassen, portraitieren.
(Aufmerksamkeit ist also keine Forderung an den Hörer mehr. Sie gilt als Forderung
nur für die Musik selbst. Die Aufmerksamkeit des Hörers ist eher ein Hindernis, eine
Verkrampfung. Das, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet ist zu sehr fixiert, zu sehr
eingegrenzt. Unaufmerksamkeit impliziert das offene Umherschweifen. Und nur dieses
kann uns zur „Begegnung“ führen, zu dem was noch nicht von vornherein feststeht.)
1995,
enth. in ANNÄHERUNG Texte.Werktexte.Textwerke
"Von der Gestalt aus stimmen die Linien annähernd"
Johannes, Evangeliar aus Soissons, Hofschule Karls d. Gr. Aachen, um 800, Paris, Bibliotèque Nationale, CC BY-SA 2.0 de
Obwohl die Zentralperspektive bereits bekannt war, und in der klassischen römischen Malerei längst ihre Anwendung fand, wurde sie von der byzanthinischen Malerei ignoriert, oder besser: sie wurde mit einem Gegenentwurf konfrontiert: der umgekehrten Perspektive.
aus einem Wikipedia Artikel über umgekehrte Perspektive in der byzanthinischen Malerei:
In der Orthodoxen Kultur sind Ikonen symbolische Referenz der Präsenz des göttlichen, die sich in der Darstellung von Heiligen und Verbindung zu Reliquien transformiert hat. Aus der historischen Assoziationen des im Bild dargestellten bestätigt der Beobachter diese Präsenz. Ikonen repräsentierten somit zeit- und raumlose Perspektiven der Präsenz Gottes. In der Nutzung der umgekehrten Perspektive ist eine Darstellung der Sicht aller Ebenen, die eigentlich simultan vom menschlichen Auge nicht erschaubar sind, gegeben. Dies ist die mittelalterliche Repräsentation der Vision des göttlichen, in der alle Ebenen und Perspektiven auf einmal dargestellt werden. Sie sind dadurch nicht Perspektiven des Menschen, sondern einer göttlichen Figur wie diese die Szene sehen würde. Einem menschlichen Betrachter wird die zeitliche und räumliche Überschreitung aus Sicht von verschiedenen Ebenen ermöglicht, die perspektivisch aus einem göttlichen Aussichtspunkt und allumfassendem Wissen ausgehen.
Seit wir die Zentralperspektive haben bilden wir uns ein wir könnten die Dinge abbilden. Wir bilden uns ein die Perspektive gäbe uns die Möglichkeit die Dinge so darzustellen wie sie sind. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall. Es gibt nichts was und so weit von den Dingen entfernt ist wie die perspektivische Darstellung - einschliesslich des realistischen Films. Alles was uns die Perspektive zeigen kann ist unser eigener Blick. Die Zentralperspektive ist eine Sehweise - eine von vielen - keine Darstellungsweise. Durch die Perspektive können wir allenfalls etwas über die DISTANZ zwischen dem Ding und uns erfahren aber nichts über das Ding selbst. (4/2005)
Notizen bei der Lektüre von Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive
"Die Flucht als Stück"
Raumflucht, Skizze zu DIE HANDLUNG, 4. Akt der Stadtoper Graz, 2000-2005
EINSTIMMIGKEIT.
Ich vergleiche die Einstimmigkeit der Musik mit der Zweidimensionalität des Bildes, Gregorianik mit Ikonen. Dann ist die Mehrstimmigkeit keine weitere Dimension, sondern nur deren Illusion. Vergleichbar sind also Durchimitation und Perspektive der Renaissance. (Unveröffentlichter Ausschnitt aus: Nach Westen, 1989-2001)
PUNTA DI FUGA
Hat je jemand ausführlicher die Verknüpfungen und Vertauschungen von Fluchtpunkt und Fuge beobachtet? Von der Durchkonstruierung und Imitation des Raums in der zweidimensionalen Fläche und der Durchimitation in der musikalischen Komposition? Von den Beziehungen zwischen Perspektive und Kanon?
Es gibt kaum eine fruchtbarere Form des Nachdenkens über Musik als die des Nacbdenkens über die bildenden Künste Malerei, Skulptur, Architektur.
Der Ausdruck "punta di fuga" (Fluchtpunkt) hat es in sich. Die Rationalisierungen des Bild? oder Tonraumes in Kanon? oder Perspktivkonstruktion sind beide in ihm aufgehoben.
Die historische Parallele ist nicht zu übersehen. Die Vorläufer von Kanontechnik und zweidimensionaler Raumdarstellung gehen auf die Zeit um 1300 zurück (englische Kanons; Giotto), und die jeweilige systematische Anwendung ist ab dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts zu verfolgen (florentinische Malerei; burgundische Tonsetzerei).
Ich hoffe ich erzähle keine alten Hüte. Aber ich will auch nur einen mir wesentlichen Punkt aus der parallelen Geschichte von Perspektive und Kanon herausgreifen, und das ist so etwas wie eine Selbstbeobachtung des Systems.
Kürzlich habe ich einen älteren "Kunstforum"?Band (Bd.105, "das gequälte Quadrat", 1990) in der Hand gehabt, worin Peter Weibel über die Perspektive schreibt. Er schreibt: Die Perspektive ist eine Beobachtung des Blicks.
Es genügt oft schon ein paar Worte auszutauschen und schon ist alles da: Der Kanon ist eine Beobachtung des Hörens!
Ich vertausche weiter: "Im 'Ich höre mich mich hören' (Paul Valery) bildet sich die Kehrseite des Bewußtseins, bildet sich der Modus aus, auf dem sich das Cogito errichtet und sich das Subjekt als Denken begreift."
Und so weiter. Zur Weiterverfolgung dieser Überlegungen kann ich nur eine solche oder ähnliche Vertauschungslektüre empfehlen.
Bevor ich abbreche möchte ich noch auf die (Nicht?)Beziehung von Kanon und dem
Verdichtungsprinzip eingeben.
Als - Feldman gegenüber - jemand von seinem Piece for Four Pianos als "Kanon" sprach war er ziemlich überrascht. Er hat es nie so gedacht. Dabei spielen tatsächlich alle 4 Spieler "ungefähr gleichzeitig" das gleiche Stück. Mir ging es ähnlich mit den
Verdichtungen. Natürlich, in einem gewissen Sinn kann man sagen, es würde sich um einen 10.000stimmigen Kanon handeln mit Einsatzabständen im Millisekunden-Bereich. Aber Kanoneinsätze im Millisekunden-Bereich, das bedeutet: immer. Eine Flucht (fuga) ist nicht mehr möglich.
Im Englischen heißt es "vanishing point". Und wenn ich vanish nicht mit Flucht sondern mit Verschwinden übersetze, dann sind wir schon wieder etwas weiter. Denn der Zusammenhang von Kanon und Verschwinden erlaubt es mir, mich mit diesem leichter anzufreunden: Die Verdichtung als die Dekonstruktion von Kanon und Perspektive, als deren Auslöschung, als das Ende der Repräsentation von Raum und Subjekt.
Aber was bleibt, wenn die Repräsentanten den Saal verlassen?
Wer sich von leeren Säalen nicht einschüchtern läßt, wird es finden.
1/98
enth. in ANNÄHERUNG Texte.Werktexte.Textwerke
Gerade der Proportionskanon rationalisiert gegenüber dem Vorangegangenen die Möglichkeiten, Nähe und Ferne darzustellen. Etwas, das späterhin durch Instrumentierung und Dynamisierung auf unmittelbarere Wirkung zählen konnte. Im Zeitalter der Niederländer aber kommt die fluchtpunktartige Verknüpfung der einzelnen Stimmen in der motivischen Vereinheitlichung weitgehend der Ausschaltung des grundsätzlich Unterschiedenen gleich. Auch im perspektivischen Raum ist es nicht mehr möglich, Vorher und Nachher gleichzeitig ins Bild zu setzen, verschiedene Zeiten einer Geschichte, oder Ebenen der Darstellung, wie des Darstellbaren überhaupt unmittelbar zu vergegenwärtigen.
Durchimitation und Perspektive sind denn auch der stabile Grundstock zur systematischen Vereinheitlichung des Denkens, das die Existenz des Verschiedenen, des Anderen negiert und jeden Widersprüch in ein Kontinuum kleinschrittiger Übergänge zu verwandeln trachtet.
(aus: Vom Tun der Musik, 1991/92, enth. in ANNÄHERUNG Texte.Werktexte.Textwerke)
Basilica Ottobeuren, 1748 von Johann Michael Fischer
vgl. auch IEAOV (für Johann Michael Fischer), 1995-97
Die Polaroid-Brille:
Die Weit wird plastischer durch sie. Das heißt aber, daß Plastizität ein Effekt der Reduktion ist, ein Erkenntniseffekt. Keine Wahrheit. Dreidimensionalität ist ein Erkenntnismedium, keine Sache, die selbst Gegenstand der Erkenntnis sein müßte. (Tatsächlich beschäftigen wir uns viel mehr mit dem Medium, als mit dem, wofür es geschaffen wurde.)
Vergleiche auch Johann Michael Fischer (*1692-1766, Rokoko-Architekt, z.B. die Stiftskirchen von Ottobeuren, Zwiefalten, Rott am Inn): Er benützt die Perspektive, um sie zu widerlegen, um den Raum zu desillusionieren. Er benutzt die optische Illusion, um die räumliche Illusion (- die, mit der wir alle leben) zu entlarven!
aus: Rauschen Stichworte 1995,
enth. in ANNÄHERUNG Texte.Werktexte.Textwerke
Johann Michael Fischer: Sein Lebenswerk bestand in immer neuen Lösungsvorschlägen, um einen alten europäischen Konflikt aufzuheben: den zwischen Basilika und Zentralbau, zwischen Längs- und Rundbau, zwischen dem Abschreiten und der Allgegenwart, und man könnte weiterführen: zwischen "Weg" und "Ort", zwischen Teleologie und Anwesenheit, zwischen Konzert und Klanginstallation, zwischen "Denken" und "Hören".
Antiperspektive in Banz - Architekten: die Gebrüder Leonhard und Johann Dientzenhofer - der Vorläufer für die Aufhebung des Raumes bei Johann Michael Fischer. Links: Die Seitenaltäre wirken fast gleich groß wie der Hauptaltar. Die Tiefe des Raumes zwischen Seitenaltären und Hauptaltar ist aufgehoben. Rechts: Erst in der diagonalen Ansicht wird die Langgestrecktheit des Raumes ablesbar.
Antiperspektive in Zwiefalten. Architekt: Johann Michael Fischer. Ihm gelingt das Wunder einen extrem langezogenen Raum mit basilikalem Grundriss beinahe wie einen Rundbau aussehen zu lassen.
Rauschen und Antiperspektive
Rauschen statisches Rauschen nimmt den Raum und die Zeit in sich auf wie einen in Watte gepackten Schmuck. Rauschen ist das präziseste Portrait des Raumes als auch der Zeit. Beide sind in ihm aufgehoben. Aufgehoben und aufgelöst wie in einer Flüssigkeit. Konserviert. Und reduziert auf ihre tatsächlichen und nicht?fiktionalen Eigenschaften: Zeit wird ihrer Illusion des Aufeinanderfolgens beraubt, indem jegliche meßbare Veränderung wegfällt, und mit dem Messen auch unsere kulturelle (heißt: second hand?)Idee vom Vergehen und Fortschreiten.
Raum wird seiner Illusion der Weite und Tiefe beraubt indem
alle Dimensionen des Raumes inklusive Temperatur und Beschaffenheit seiner Begrenzungen, auf eine konkrete Klangfarbe reduziert werden, und diese gesamte illusionistische und perspektivistische Idee des Man-Könnte-Wo-Anders-Sein-Als-Man-Ist zunichte gemacht wird.
Als Drittes ist aber das Rauschen das perfekte Portrait der Fiktion selbst. Das Portrait des Hörers und des Hörens samt seiner Projektionen auf das Rauschen. Das Rauschen ist nicht illusionsfrei. Die Illusion die es uns nimmt in Bezug auf Zeit und Raum, gibt es uns wieder als erkennbar Illusion unserer selbst. Es ist die konkrete Möglichkeit uns unserer eigenen Wahrnehmung gegenüber gestellt zu sehen. Es nimmt uns die Idee von den Dingen (wie Zeit und Raum) und gibt uns dafür die Idee unserer Wahrnehmung selbst. (- Es gibt uns die Idee unserer Wahrnehmung, nicht die Wahrnehmung selbst ? an sie können wir nicht heranreichen.)
Rauschen portraitiert die konkrete Essenz des Raumes und der Zeit indem sie sich in ihm abdrücken wie in einem Wachsbrett, indem das Rauschen sie abformt wie für einen Abguss. Und: Rauschen ist der Spiegel unserer Illusionen, den es uns vorhält auf daß wir etwas über unsere Wahrnehmung erfahren.
aus: "Schnee(2)", 12/1999,
enth. in ANNÄHERUNG Texte.Werktexte.Textwerke
Aufhebung des Raumes bei den Asam-Brüdern. Die Kuppel von Weltenburg an der Donau. Dass zwischen dem ovalen Kuppelrand und der bemalten Flachkuppel noch ein Raum von ca. 20m Höhe liegt ist "aufgehoben". Eine weitere Konstruktion eines Zum-Verschwinden-Bringens betrifft das raffiniert geführte natürliche Licht, dessen Herkunft versteckt wird, was dazu führt, die "irreale" Wirkung zu erhöhen. Erst von außen ist der hohe aufgesetzte Lichttambour und seine vom Innenraum aus unsichtbaren Riesenfenster sichtbar.
Aufhebung des Raumes bei Turrell. Man möchte annehmen, dass Turrell bei den Asams in die Lehre gegangen sei. Die methodisch exakt gleiche Doppelstrategie ist am Werk: Wie auch bei den Asams dient der Rahmen dazu den Ort des Bildes zu verschleiern. Das blaue Rechteck liegt natürlich nicht flach auf der Wand, das Blau ist ein eigener Lichtraum hinter der rechteckig geöffneten Wand, welcher mit indirektem blauem Licht beleuchtet wird. Wieder wird Raum benutzt um ihn zum Verschwinden zu bringen.
James Turrell, Danae, 1983, wolfram- und ultraviolettes Licht, courtesy of Mattress Factory, Pittsburgh, Pennsylvania, CC BY-SA 2.0 de
Und das zeigt uns die Fragwürdigkeit von Wahrnehmung, die Irreführung von Wahrnehmung, wie weit die normale Alltagswahrnehmung eigentlich entfernt ist von der Wirklichkeit, wie falsch die Wahrnehmung ist. Eigentlich benütze ich die Wahrnehmung, um die Wahrnehmung zu widerlegen.
aus: Mit der Wahrnehmung die Wahrnehmung widerlegen
Der Komponist und Klangkünstler Peter Ablinger im Gespräch
mit Rainer Nonnenmann, Österreichische Musikzeitung, 05 2015
vergleiche:
Antiperspektive Schwarz
Metaphysisches Objekt
Orgel und Rauschen
Die Farbe der Nähe
Die ungarische Brücke ("Für Immer")
Netzoper
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